Wahrheitspflicht im Zivilprozess und nemo-tenetur
„Mehr Handlungssicherheit für Unternehmen bei der Verfolgung von Compliance-Verstößen“
Die Wahrheitspflicht nach § 138 ZPO zählt zu den tragenden Grundpfeilern des Zivilprozesses. Sie verpflichtet Parteien zu einem vollständigen, wahrheitsgemäßen Vortrag und sanktioniert wahrheitswidrigen oder unterbliebenen Vortrag prozessual: So hat Schweigen zum einen die Geständnisfiktion des § 138 Abs. 3 ZPO zur Folge, zum anderen können vorsätzliche Falschangaben strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. In arbeitsrechtlichen Streitigkeiten erhält diese Pflicht besonderes Gewicht, wenn parallel strafrechtliche Ermittlungen laufen und der Konflikt mit dem Grundsatz nemo tenetur se ipsum accusare (niemand ist verpflichtet, sich selbst anzuklagen) auftritt. Das Gleiche gilt bei internen Untersuchungen, bei denen sich die Frage stellt, ob der Arbeitnehmer aus Gründen seiner arbeitsvertraglichen Nebenpflicht sich zu einem Sachverhalt erklären muss oder er sich auf ein Schweigerecht berufen kann, dass das Strafrecht kennt.
Mit Beschluss vom 11. 4. 2025 – 2 Sa 67/25 – (siehe CB 2025, 486) entschied das LAG Schleswig-Holstein diesen Konflikt zugunsten der Wahrheitspflicht. Dem Verfahren lag eine arbeitsrechtliche Streitigkeit zugrunde, in dem sich der Arbeitnehmer nach einer fristlosen Kündigung Schadensersatz- und Auskunftsansprüchen wegen wettbewerbender Handlungen ausgesetzt sah. Zugleich war der Kläger Beschuldigter in einem Strafverfahren, in dem ihm Untreue, Bestechlichkeit und Geheimnisverrat zur Last gelegt wurde. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren schwieg der Kläger zu den Vorwürfen, so dass er antragsgemäß zur Auskunft und Herausgabe verurteilt wurde. Als die Beklagte das Urteil vollstreckte, wandte der Kläger im Rahmen der Zwangsvollstreckung – erfolglos – die Verletzung des nemo tenetur Grundsatzes ein.
Die Entscheidung reiht sich ein in eine Linie streng verstandener Wahrheitspflichten. Schon das BVerfG (Beschl. v. 13. 1. 1981 – 1 BvR 116/77) bejahte im Konkursverfahren weitgehende Auskunftspflichten trotz möglicher Selbstbelastung wegen des besonderen Schuldner-
Gläubiger-Verhältnisses. Gleichwohl bleibt die Diskussion offen. In der Literatur wird teils ein Schweigerecht in Extremfällen vertreten; auch fehlt bislang eine höchstrichterliche Entscheidung von BAG oder BGH zu genau dieser Konstellation. Zunächst dürfte aber gelten: Das Risiko für Informationsdefizite wird nicht einseitig dem Anspruchsteller aufgebürdet. Wer den Sachverhalt als betroffene Partei kennt, muss sich erklären. Unterbleibt dies, greifen prozessuale Mechanismen wie die Geständnisfiktion oder die Bewertung von Bestreiten mit Nichtwissen. Diese Grundsätze gelten auch, wenn parallel ein Strafverfahren läuft. Parteien können ihren Vortrag so gestalten, dass er keine unnötigen Selbstbelastungen erzeugt, sie können aber nicht erwarten, dass das Gericht die Beweislast des Gegners dauerhaft trägt.
Best practice aus Unternehmenssicht ist es daher, bereits auch in vor Ausspruch der Kündigung erfolgenden internen Untersuchungen Auskunfts- und Darlegungspflichten konsequent einzufordern und im gerichtlichen Verfahren durch entsprechenden Vortrag den Arbeitnehmer in die „Pflicht zur Erklärung“ zu treiben. Gerade bei Compliance-Fällen oder Verdachtskündigungen liegt die Beweisführung oft außerhalb der eigenen Wahrnehmungssphäre. Entweder die Gegenseite trägt dann vor und ermöglicht gerichtliche Aufklärung, oder sie trägt die Nachteile. Eine strategische Abstimmung zwischen Straf- und Zivilverfahren bleibt daher aus Arbeitnehmersicht geboten. Für diese verschärft sich das Dilemma. Schweigen kann den Prozesserfolg gefährden, Vortrag kann strafrechtliche Risiken vergrößern. Erforderlich ist eine enge Koordination zwischen Arbeitsrechts- und Strafverteidigung, um widersprüchliche Strategien zu vermeiden. Dazu gehören die präzise Trennung von Tatsachen- und Rechtsvortrag, die Nutzung tragfähigen Bestreitens mit Nichtwissen sowie die Prüfung prozessualer Gestaltungen wie Anerkenntnis oder Teilvergleich.
Die aktuelle Entscheidung stärkt die Wahrheitspflicht auch im Schatten strafrechtlicher Verfahren. Schweigen bleibt möglich, ist aber nicht folgenlos. Für Unternehmen bedeutet dies mehr Handlungssicherheit bei der Verfolgung von Compliance-Verstößen. Für Arbeitnehmer erhöht sich der Druck zu einer konsistenten, interdisziplinär abgestimmten Prozessstrategie. Bis zur höchstrichterlichen Klärung gilt: § 138 ZPO behält Vorrang, und prozessuale Nachteile treffen den, der seiner Erklärungspflicht nicht nachkommt.

Prof. Dr. Michael Fuhlrott ist Partner bei FUHLROTT Arbeitsrecht in Hamburg. Er berät Unternehmen zu sämtlichen individual- und kollektivrechtlichen Fragestellungen mit einem Schwerpunkt im Arbeitnehmerdatenschutz.



