Lebensmittel Zeitung 47 vom 21.11.2025 Seite 20
EU will Abgaben auf Ungesundes
Gesundheitskommissar Olivér Várhelyi plant Maßnahmen gegen „hochverarbeitete Lebensmittel“, Tabak und Alkopops
Brüssel will mehr zur Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen unternehmen und nimmt dazu „hochverarbeitete Lebensmittel“ ins Visier. Parallel wird auch in Berlin über gesundheitliche Folgen von Ernährung diskutiert.
Nach Auffassung von EU-Gesundheitskommissar Olivér Várhelyi unternimmt Europa zu wenig zur Vermeidung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Der Ungar will deshalb im Dezember einen „Cardiovascular Health Plan“ vorlegen. Als eine von zehn „Flaggschiff“-Maßnahmen sind darin „neue EU-weite Abgaben auf stark verarbeitete, fett-, zucker- und salzreiche Lebensmittel und Alkoholdrinks“ vorgesehen – und zwar schon ab 2026.
Weitere Punkte zielen auf eine „Modernisierung der Tabakregulierung“, die Einführung eines „Lebensmittelbewertungssystems für Europa mit vollständigen Nährwertprofilen“ sowie die Ermöglichung einer „lebenslangen, personalisierten, digitalen Prävention“ unter dem Titel „EU cares for your heart“. Das geht aus einem inoffiziellen Entwurf der Generaldirektion Gesundheit hervor, der der LZ vorliegt. Das Portal „Eurcativ“ berichtete zuerst über das 27-seitige Papier.
„Dieser Vorschlag ist ein weiterer Beleg für den Bürokratie-Irrsinn aus Brüssel“, kommentiert Christoph Minhoff, Hauptgeschäftsführer des Lebensmittelverbandes, das Vorhaben des Gesundheitskommissars. „Es gibt weder eine von der Wissenschaft allgemein anerkannte Definition für ‚stark verarbeitete‘, noch ist klar, was ‚hohe‘ Gehalte sein sollen“, kritisiert Minhoff. Der Vorstoß verkenne die Verantwortung und Innovationskraft der Branche, die seit Jahren freiwillig Rezepturen überarbeite.
Ob „hochverarbeitete Lebensmittel“ gesundheitsschädliche Auswirkungen haben, ist unklar. Schon die Begrifflichkeit ist in der Ernährungswissenschaft umstritten. Die Aussagekraft des für „Ultra-Processed Food“ (UPF) häufig verwendeten Klassifizierungssystems „NOVA“, das Lebensmittel in vier Verarbeitungsgrade einteilt, wird angezweifelt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sucht derzeit Experten, um im zweiten Schritt Leitlinien zum Verzehr von UPF zu erarbeiten. Das Vorhaben wird von der Kommission des „Codex Alimentarius“, der global Lebensmittelstandards festlegt, kritisch beäugt. Das geht aus Sitzungsprotokollen der Kommission aus der vergangenen Woche hervor, die der Redaktion vorliegen. Die Fachleute bemängeln, dass „die aktuellen Definitionen von ‚ultra-verarbeitet‘ für die wissenschaftliche Klassifizierung von Lebensmitteln hinsichtlich ihrer Gesundheit für Verbraucher weltweit ungenau sind“. Sie pochen auf einen „etablierten wissenschaftlichen Ansatz“ zur Bewertung. Laut einer aktuellen Veröffentlichung des medizinische Fachjournal „The Lancet“ besteht dagegen ein Zusammenhang zwischen hochverarbeiteten Lebensmittel und nicht- übertragbaren Krankheiten.
EU-Kommissar Várhelyi sieht in seinem Aktionsplan die Erstellung einer Studie zu UPF vor. Noch handelt es sich bei dem Papier nur um einen Entwurf. EU-Abgeordnete forderten jüngst den Rücktritt des schillernden Kommissars, weil er in mutmaßliche Spionageaktivitäten der ständigen Vertretung Ungarns in Brüssel verwickelt sein soll, was Várhelyi bestreitet.
Bei einem Fachgespräch der Grünen im Bundestag wurde unterdessen der Ruf nach Einführung einer Zuckersteuer bekräftigt. Der Ernährungsmediziner Hans Hauner, ehemaliger Direktor des Instituts für Ernährungsmedizin, kritisierte: „Wir stecken mitten im Anstieg der Adipositas und haben bislang noch keine wirksamen Mittel dagegen gefunden.“ Die Debatte über die Zuckersteuer sei notwendig. Viele Länder würden auch Steuern auf Fast- Food-Produkte erheben, so Hauner, „aber bei uns geht nichts voran“. Stephanie Wunder von Agora Agrar mahnte „faire Ernährungsumgebungen“ an und verwies auf die zehnköpfige Expertenkommission, die im ersten Quartal 2026 Vorschläge zur Stabilisierung der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung unterbreiten will – „sicher auch zur Zuckersteuer“. Eine solche Steuer könne einen „ökonomischen Anreiz“ bieten, urteilte erst kürzlich Cornelia Schmachtenberg (CDU), neue Agrarministerin in Schleswig-Holstein.
Hanno Bender und Hans-Jürgen Deglow



